[Kurzgeschichte] Der Flug des Drachen

Heute ist in den USA der nationale Tag des Kite Flyings, also des Steigenlassens von Flugdrachen.

Naja, da springt einen die Idee doch schon von selbst an, oder?

Ich muss allerdings dazu sagen, dass die Kurzgeschichte in einem Buchuniversum spielt, zu dem ich schon einen halbfertigen Roman (oder Novelle, jedenfalls längeres Kinderbuch) in der Schublade habe. Aber sie sollte ohne Vorwissen lesbar sein – und es sind neue, eigene Charaktere.

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#SchreibnachtAdventskalender – Die gegossene Katze

Seufzend hob Ella den Kopf und schaute aus dem Fenster. Nein, das war nicht ganz richtig, denn noch immer wirbelten die Buchstaben vor ihren Augen herum, obwohl sich auf der Scheibe oder dahinter keine befanden.

Sie hatte zu lange auf den Text geschaut, das war ihr klar. Aber das Pensum eines normalen Studiums schaffte man eben nicht, wenn man nicht mindestens zehn Stunden am Tag arbeitete. Zumindest nicht, wenn man nicht mogelte, und das lag ihr fern.

Langsam gewöhnten sich ihre Augen wieder an die Weite und das  fahle Sonnenlicht des Winters, so dass die tanzenden Buchstaben verschwanden und sie wieder die Nachbarschaft sah, die auf der anderen Seite der dreckigen Scheibe ihren normalen Gang nahm.

Ellas Blick wanderte über die Balkone an der Hauswand gegenüber. Einige sahen freundlich und gepflegt aus, mit den letzten bunten Blumen – Weihnachtssternen –  oder Strandkörben, obwohl selbst der nächste Badesee eine halbe Stunde entfernt war.  Aber manch einer holte sich das Urlaubsgefühl eben gern auf den Balkon.

Andere wirkten kalt, oder mit Deutschland-Flaggen verziert und damit eher problematisch in einer Zeit voll beginnendem Nationalismus.

Auf einem Balkon sah sie einen älteren, aber noch sehr gesund wirkenden Mann, der dabei war,  seinen schon kahlen Blumenkasten zu gießen. Nur Tannenzweige steckten darin. Ob er versuchte, aus ihnen Setzlinge zu züchten? Ging das mit Tannen denn? Plötzlich sprang seine rotgetigerte Katze auf die Brüstung.

Lächelnd streichelte der Herr sein Tier, bevor er die Gießkanne in Richtung der Katze schwenkte.

Ella zog die Brauen hoch. Von ihrer eigenen Katze und Badeversuchen wusste sie, wie so etwas enden konnte. Hoffentlich verletzte der rote Tiger weder sich noch sein Herrchen vor Schreck.

Doch die Katze schien das eher zu genießen, reckte und streckte sich auf der Brüstung unter den Wassertropfen. Doch sie streckte sich nicht nur, sie wuchs?

Zusehends wurde die Katze größer und auch das Fell verschwand. Nur ihre rote Tigerung behielt sie bei, während ihr große, ledrige Schwingen wuchsen.

Dann sprang der Nachbar auf das Wesen, dass gerade eher einem Drachen ähnelte. Das schien sich nicht daran zu stören. Im Gegenteil. Mit einem Jauchzen des Nachbarn und wenigen Flügelschlägen des Wesens waren beide aus Ellas Sichtfeld verschwunden und nur das fröhliche Lachen des Nachbarn klang noch einen Moment durch die Häuserschlucht.

Stirnrunzelnd blickte Ella zu ihrer eigenen Katze, die ihr demonstrativ den Rücken zuwandte und ihre Pfote leckte.

„Kannst du das auch?“, fragte die Studentin, griff sich eine Gießkanne und öffnete die Balkontür. Normalerweise passte sie auf, dass die Katze niemals nach draußen kam, aus Angst, sie würde dann abstürzen. Nur mit Leine ging sie mit ihrem Fellknäuel nach draußen in den Park. Doch heute ließ sie zu, dass die Katze ihr folgte.

Das schwarze Tier sprang behände auf die Brüstung und schaute sein Frauchen auffordernd an.

„Oh, bitte, stürz nicht ab“, flehte Ella leise und ließ die Gießkanne in einiger Höhe über den Rücken ihrer Katze pendeln. Sie benässte den dichten Pelz, der sich langsam in den Körper des Tiers zurückzuziehen schien. Und kurz darauf stand ein schwarzer Drache vor ihr, der ihr die Wange leckte.

Als sie die Augen aufschlug, lag sie neben dem Schreibtischstuhl auf dem Boden und ihr Hinterkopf tat weh. Aus irgendeinem Grund war die Balkontür offen. Und ihre Katze schaute sie so komisch an. Warum war das schwarze Fell so feucht? Ella verstand die Welt nicht mehr. Aber mit einem Seufzen stand sie auf, schloss die Tür, damit ihre Katze bloß nicht nach draußen lief, zog ihre Strickjacke bibbernd fester um sich, und machte sich dann einen starken Kaffee. Auf keinen Fall wollte sie über den Texten noch einmal so einschlafen, dass sie vom Stuhl fiel.

Dass auf dem Boden neben ihr ein paar Drachenschuppen lagen, bemerkte sie nie.


Hier geht es weiter mit den Türchen zu anderen: 
Gestern gab es Tür Nummer 9 im Schreibnacht-Magazin