[Kurzgeschichte] Der Flug des Drachen

Heute ist in den USA der nationale Tag des Kite Flyings, also des Steigenlassens von Flugdrachen.

Naja, da springt einen die Idee doch schon von selbst an, oder?

Ich muss allerdings dazu sagen, dass die Kurzgeschichte in einem Buchuniversum spielt, zu dem ich schon einen halbfertigen Roman (oder Novelle, jedenfalls längeres Kinderbuch) in der Schublade habe. Aber sie sollte ohne Vorwissen lesbar sein – und es sind neue, eigene Charaktere.

CN: getrennte Eltern

Tags: Drachen, Flugdrachen

 

So ein Taschendrache war ein guter Freund, das musste Paula zugeben. Ihr Drache Thymmie war nicht nur immer an ihrer Seite, er konnte auch Rauch aus seinen Nüstern ausstoßen, der ihr half, wenn ihre Lunge mal wieder weh tat.

Im Gegenzug gab sie ihm ein schönes Zuhause. Sein Nest auf ihrem Schreibtisch war mit Plüsch ausgelegt und auf ihrem Fensterbrett wuchsen die Kräuter, die er sich im Baumarkt ausgesucht hatte, damit er immer Snacks in der Nähe hatte.

Aber eine Sache konnte selbst Paula nicht für ihren Drachen machen: Sie konnte nicht dafür sorgen, dass ihm flugfähige Flügel wuchsen.

In all den Büchern über Drachen konnten sie fliegen. Sie flogen, um Prinzessinnen zu ihrem Turm zu entführen, oder, um den Drachentötern auszuweichen.

“Dafür bist du nicht böse und keiner jagt dich”, versuchte Paula, ihren Thymmie zu trösten.

Der aber saß am Fensterbrett und schaute den Vögeln dabei zu, wie sie mit dem Herbstwind spielten. “Aber fragst du dich nicht auch manchmal, wie es wäre, zu fliegen?”, fragte der kleine Drache, ohne sich zu Paula umzudrehen.

Sie überlegte. Mit Papa, Vati und Mama war sie schon einmal in den Urlaub geflogen. Sie hatte am Fenster sitzen dürfen und es war schön gewesen, die Wolken von oben zu sehen. Aber das meinte Thymmie vermutlich nicht.

“In meinen Träumen kann ich das”, meinte sie also nur. Und das stimmte. In ihren Träumen konnte sie durch die Luft schwimmen wie durch Wasser.

“In meinen Träumen kann ich das auch”, flüsterte Thymmie. Dann wandte er sich vom Fenster ab. “Kannst du bitte das Rollo schließen? Und dann lass uns mit deinen Hausaufgaben anfangen. Soll ich dir das mit der Multiplikation noch einmal erklären?” 

 

Das Gespräch hatte Paula nicht mehr losgelassen und sie hatte überlegt, ob sie Thymmie seinen Wunsch irgendwie erfüllen konnte.

Sie hatte sich mit Yasha, Benny und Imani besprochen, den Kindern in ihrer Klasse, deren Eltern ebenfalls getrennt lebten, mit mindestens einem Elternteil in einer anderen Stadt – und die deswegen ebenfalls einen Drachen als Freund hatten. Doch keiner von ihnen wusste Rat. Außer Thymmie schien sich kein Drache so sehr danach zu sehnen, fliegen zu können.

Und gleichzeitig hatten auch die älteren Drachen bisher noch keine flugfähigen Flügel entwickelt. Das konnte natürlich noch kommen, niemand, den Paula kannte, hatte seinen Drachen schon länger als drei Jahre. Aber so konnte sie Thymmie gerade auch damit keinen Trost spenden.

 

Die Lösung bot schließlich Hoa, ihre beste Freundin, die leider bei der Einschulung in der Parallelklasse gelandet war. Aber so machte Hoa im Unterricht oft andere Sachen oder in einer anderen Reihenfolge und sie konnten sich darüber austauschen. Und Hoas aktuelles Projekt aus dem Werkunterricht interessierte Paula ganz besonders. 

 

“Heute ist es aber windig. Bist du dir sicher, dass wir in den Park gehen sollten?”, fragte Thymmie. “Nicht, dass bei dem Wind Äste abbrechen und auf uns fallen.”

“Ach was. Vati hat gesagt, dass das nur Windstärke vier ist. Und Papa meinte, die sei noch gar nicht gefährlich und sogar perfekt für das, was wir vorhaben.”

“Was haben wir denn vor?”

“Wart’s nur ab. Das wird eine Überraschung.”

Hoa wartete bereits im Park auf sie. Sie hatte ihr Bastelprojekt aus der Schule noch einmal etwas nachgebessert. Sie hatte eine kleine Pilotenkapsel mit Polsterung und Sicherheitsgurten gebastelt. Paula zog zudem auch noch einen Helm und Gelenkschoner heraus, die sie einer ihrer Puppen abgenommen hatte, und die Thymmie gut passen sollten. Und so wurde der kleine Drache, gut gesichert, in die Kapsel gesetzt. Und dann … 

 

“Huiiiiiiii”, kam es gut gelaunt aus der Höhe, während Hoa ihren Flugdrachen sicher an der Leine hielt und darauf achtete, dass er nicht zu sehr im Wind schwankte. Wer wusste schon, ob Drachen nicht auch reisekrank werden konnten? Aber aktuell klang Thymmie einfach nur begeistert. Und sogar die erste, etwas unsanfte Landung, gut geschützt durch seine Kapsel und Paula, die ihr Bestes tat, ihren Drachen und sein Fluggerät zu fangen, hatte ihm nichts ausgemacht.

Für den Moment reichte das, um Thymmie seinen Traum zu erfüllen. Aber Paula hatte schon begonnen, ihr Taschengeld zu sparen. Bestimmt würde sich irgendwann auch ein Lenkdrache finden lassen, den man entsprechend für Drachen herrichten lassen konnte.

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