Die Suche nach Weihnachten

Hiermit wünsche ich euch frohe Weihnachten.

 

Heiligabend.

„Was an diesem Tag ist eigentlich genau heilig?“, stöhnt Frida, als sie mit Mühe einem Stapel Geschenke für die Kinder ausweicht, der das ganze elterliche Schlafzimmer in Besitz zu nehmen droht. Im Geiste geht sie zum wiederholten Mal ihre To-Do-Liste durch: Aufräumen. Gänsebraten und Kartoffelknödel zubereiten. Tisch decken. Dafür sorgen, dass alle ein unvergessliches Weihnachtsfest erleben.
Wie immer. Die Frida, die macht das schon, – was ist sie nur für eine wunderbare Gastgeberin! Stets freundlich, gut gelaunt – ganz die perfekte Ehefrau und Mutter.

Den ganzen Vormittag ist sie schon allein in ihrem Häuschen am Stadtrand von Berlin, das Jan für sie beide ausgesucht hatte. Sie erinnert sich noch genau an seine Worte, fünf Jahre müsste das jetzt auf den Tag genau her sein: «Jetzt, wo du schwanger bist, brauchen wir etwas Größeres.»

Sie hat zugestimmt. Vielleicht hat sie in letzter Zeit etwas zu oft ‹ja› gesagt. „Ja, geh nur vormittags mit den Kindern auf den Weihnachtsmarkt, ich schaffe das hier schon.“ „Ja, laden wir doch Oma Anita und Opa Bernd an Weihnachten zu uns ein.“ „Ja, klar kann dein Bruder David auch kommen. David, der sich hier wie jedes Jahr einnistet, keine Geschenke für die Kinder dabei hat und das ganze Haus durch seine arrogante Art einzunehmen scheint.“ Sie fröstelt schon bei dem Gedanken an ihren Schwager …

Ihr Blick bleibt an der roten Küchenuhr hängen, die ihre besten Tage hinter sich hat. „Im Grunde bin ich wie diese Küchenuhr“, sagt Frida laut und erschrickt, als ihre Stimme im leeren Haus hallt. Sie streicht sich mit der Hand über die Stirn, ganz so als könnte sie die Gedanken einfach fortwischen.

Das laute Schrillen der Türglocke holt sie abrupt in die Realität zurück. Ausgeschlossen, dass es schon die Familie ist. Aber hierhin verirrt sich doch eigentlich keiner – schon gar nicht an Heiligabend. Frida seufzt und öffnet langsam die Tür. Doch zu ihrem Erstaunen steht niemand dort. Nur ein kleines Gerät liegt auf der Treppe vor ihrer Tür und trägt ein gelbes Post-It. «Nutz mich», steht darauf und Frida runzelt einen Moment lang die Stirn.

Sie hatte schon einmal so etwas gesehen, als ihre Freundin sie unbedingt dazu überreden wollte, dass sie gemeinsam dieser GPS-Schnitzeljagd nachgehen sollten. Frida hatte nichts gegen die Spaziergänge an der frischen Luft gehabt, aber ein Benutzerkonto, Rätsel und stundenlanges, offenbar oft sinnloses Suchen? Nein, das war nichts gewesen, womit man sie hätte reizen können. Doch jetzt spürt Frida ein gewisses Interesse, was es damit wohl auf sich hat. Hat ihre Freundin ihr das vor die Tür gelegt? Aber nein, Marie ist die meiste Zeit pleite, so viel Geld würde sie niemals für etwas ausgeben, das schon abgelehnt wurde.  Und sie muss doch gerade selbst alles für Weihnachten vorbereiten. Also wer steckt sonst dahinter?

Frida nimmt das Gerät hoch und schaut es sich genauer an. Das hier muss wohl der Einschaltknopf sein. Das Gerät piepst kurz, dann sucht es Satelliten, aber es zeigt schon Koordinaten an. Da soll sie wohl hin? Die junge Mutter überlegt einen Moment. So viel Arbeit wartet noch auf sie. Und doch will sie wissen, was es mit dem Ding auf sich hat. Irgendjemand hat irgendetwas mit ihr vor. Vielleicht Jan? Kann ihr Mann doch noch so romantisch sein, sie für eine Überraschung aus dem Haus zu locken?

Sie nimmt kurzentschlossen ihren Mantel, streift ihn über und verlässt das Haus. Mittlerweile hat das Gerät auch Kontakt zu ausreichend Satelliten und zeigt ihr an, wo es lang geht.Fünfhundert Meter, offenbar nur die Straße hinunter und in die nächste Querstraße hinein. Das kann aber keine große Überraschung sein, denkt Frida und folgt dem Weg, den das Gerät vorgibt. Dann ist sie bei 0 Metern angekommen und schaut sich um. Ein Laternenpfahl mit einem Schild, dass hier nur Anwohner parken dürfen? Das sieht aber nicht wie eine romantische Überraschung aus.

Gerade als Frida enttäuscht, vielleicht etwas verärgert umdrehen und nach Hause gehen will, entdeckt sie, dass hinter dem Schild, mit einem dünnen Faden Lametta um den Pfahl gebunden, eine kleine, silberne Christbaumkugel hängt. Sie zieht an dem Faden, der schnell nachgibt und reißt, und sieht Zahlen auf der Kugel. Sind das weitere Koordinaten? Sie versucht, die Zahlen einzugeben und nach zwei Versuchen findet sie wirklich die richtigen Knöpfe und ihr wird ein Ziel, etwa achthundert Meter weiter angegeben. Da beginnt schon längst das kleine Wäldchen. Doch obwohl es schon langsam dunkel wird, und sie langsam die Kälte spürt, entscheidet sie sich dennoch, auch diesen Koordinaten zu folgen.

Sie erreicht den Waldrand und ist mittlerweile froh, dass der Boden gefroren ist. Sonst würde sie jetzt wohl knöcheltief im Matsch stehen, Dennoch fröstelt sie und hofft, dass dies die letzte Station sein wird. Frida schaut sich um und in einem hohlen Baumstamm am Wegesrand findet sie eine große Dose, wie sie selbst sie normalerweise nimmt, um Suppen einzufrieren. Sie öffnet die Dose und findet zunächst einen Zettel. „Hast du vergessen, dich warm einzupacken?“ Darunter liegen nicht nur ein Schal und Handschuhe, sondern auch Taschenwärmer, die sie sofort aktiviert und sich in die Hosentaschen steckt, um ihre frierenden Beine etwas zu wärmen. Auch Schal und Handschuhe zieht sie an, wobei ein weiterer Zettel runterfällt. Weitere Koordinaten. „Wo willst du mich denn noch hinführen?“, fragt Frida, obwohl sie weiß, dass sie niemand hört, vielleicht mit Ausnahme eines Rehs im Unterholz. Dennoch gibt sie nach einem Seufzen auch die neuen Koordinaten ein. „Ein Kilometer?!“

Aber sie will endlich wissen, wo das hinführt, was sie erwartet, also macht sie sich wieder auf den Weg. Erst über Waldwege, dann quer durch das Unterholz. Hier braucht sie deutlich länger, muss immer aufpassen, weder über Wurzeln zu stolpern, noch in Erdlöcher, womöglich Tierbauten, zu treten. Immer wieder kämpft sie mit ihrem Gleichgewicht, dann zeigt ihr GPS-Gerät endlich an, dass sie am Ziel ist. Es wird langsam dunkel und sie kann die Dose diesmal nur sehen, weil ein nachtleuchtender Stern darauf geklebt ist. „Es ist doch auch das Fest der Lichter“, sagt der Zettel, der diesmal in der Dose ist, zusammen mit neuen Koordinaten und einer Taschenlampe. Wer auch immer die Dosen versteckt hat, er scheint Frida zu kennen und nun muss sie doch etwas schmunzeln. Langsam ist sie doch gespannt und irgendwie macht es ihr Spaß, dabei bringt ihr die Reise doch nichts. Im Gegenteil, ihr Gewissen beschwert sich schon, immerhin braucht ihre Familie sie doch. Noch nichts ist fertig und bald ist schon Bescherung. Und dennoch, sie schafft es nicht, ihre Neugier zu unterdrücken.

Noch einmal geht sie eine ganze Strecke durch den Wald, hört hier und da ein Tier und überlegt, dass sie hier vermutlich lange keiner finden wird, sollte das hier eine Falle sein. Aber dann ist das hier wenigstens erfüllender gewesen, als sich zuhause abzurackern. Der Gedanke erschreckt die junge Frau, also schüttelt sie ihn schnell ab und geht weiter, bis sie an einen Hochsitz kommt. Im Licht der Taschenlampe sieht sie etwas glitzern und tritt näher. Eine Weihnachtsbaumspitze? Ein silber-gold glänzender Stern mit biegsamem Drahtgeflecht zur Befestigung hängt, wieder mit Lametta befestigt, am Hochsitz und Frida betrachtet ihn fasziniert. So eine schöne Baumspitze hat sie noch nie gesehen, einfach und doch edel. Und wieder sieht sie ein Post-It daran. „Ist es nicht Zeit, nach Hause zu gehen?“ Frida hat jedes Zeitgefühl verloren, aber nimmt an, dass der Zettelschreiber Recht hat. „Was soll das Ganze? So viel Laufen, nur für eine Baumspitze?“, fragt sich die junge Mutter und legt die Stirn in verärgerte Falten, doch dann gesteht sie sich ein, dass ihr die frische Luft und Bewegung gut getan hat. Sie fühlt sich müde, aber auch viel entspannter, zufriedener. Nur die Angst vor den Vorwürfen ihrer Familie quält sie, während sie im Dunkeln erst versucht, den Waldweg wieder zu finden und dann in die richtige Richtung, nach Hause, zu gehen.

Es kommt ihr wie eine Ewigkeit vor, doch dann ist sie endlich wieder daheim, schließt auf und schon dringt ein herrlicher Geruch in ihre Nase. Ihre Familie ist gerade dabei, den Tisch zu decken, während sie Mantel, Schal und Handschuhe abstreift und den gefundenen Stern auf den geschmückten Tannenbaum setzt. „Wo warst du denn?“, fragt Jan sie und gibt ihr einen Kuss. „Hast du noch etwas für das Essen gebraucht? Dabei riecht es doch jetzt schon, als hättest du dich selbst übertroffen.“ Frida will antworten, dass sie doch gar nichts gekocht hat, da trägt Opa Bernd schon den Braten ins Esszimmer, während Oma Anita die Knödel bringt. Auch Jan macht sich auf und holt Wein für die Erwachsenen und Limo für die Kinder. „Aber, wer…“, setzt Frida nun doch an, doch wieder unterbricht sie etwas. Diesmal das Klirren vieler Glöckchen von draußen. Sie alle gehen ans Fenster, können aber nichts sehen. Nur die Glöckchen hören sie noch immer und Frida meint, auch etwas zu vernehmen, was wie „Hohoho“ klingt. Dann fängt es an zu schneien, so dass die Welt in Windeseile weiß und friedlich wird.

Als sie sich umdrehen, um endlich über das Essen her zu fallen, liegen plötzlich Geschenke unter dem Baum, nicht nur die, die vorhin noch im Schlafzimmer waren, sondern auch Fremde. Und an der Baumspitze hängt ein Post-It: „Für Frida, frohes Fest.“

Nur dass David nun doch nicht da ist, bemerkt an diesem Abend keiner. Das sollen sie erst in den nächsten Tagen erfahren, wenn er erzählt, wie er am ersten Weihnachtsfeiertag mit einem Kater neben einer nackten Frau aufgewacht ist und dabei ungeplant die Liebe seines Lebens fand. Und noch Jahre später wird die ganze Familie sagen, dass das der Abend gewesen ist, an dem sie alle den Glauben an Weihnachten wiederfanden.