Pflückt Rosenknospen, solange es geht
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Sie ging zum Lieblingsort ihrer Kindheit zurück, voll Vorfreude, dort in bittersüßer Melancholie schwelgen zu können. Wie oft hatte sie am Fluss im Sommer ihre Füße gekühlt, im Frühling die Kaulquappen beobachtet und zugeschaut, wie das klare Wasser über die kleinen und größeren Steinchen schwemmte? Sie hatte sich an die Trauerweiden gelehnt und gelesen, die Ruhe der Natur genossen. Und als Kind der Generation Löwenzahn hatte sie es sich auch nicht nehmen lassen, ein Papierboot mit einem Foto von sich auf große Fahrt geschickt und zugesehen, wie es in der Ferne verschwand. Sie hatte sich ausgemalt, was für Abenteuer es wohl noch auf seiner Reise erleben würde.
Dieser Ort war für sie das Paradies gewesen. Ein kleiner, abgelegener Ort, nah an ihrem Zuhause und doch weit weg von der Gesellschaft und dem Lärm der befahrenen Straßen. Kaum ein Mensch kam mal hier her, dafür tummelten sich hier aber Tiere der verschiedensten Arten. Die Rehe kamen zum Trinken, Mäuse huschten durchs hohe Gras, und die Vögel sangen fröhlich ihre schönsten Lieder. Im Frühsommer wehte warmer Wind manchmal sogar den Duft der Wildblumen in die Welt hinaus.
Aber all diese Zeiten waren nun vorbei. „Deutschlands Flüsse werden wieder sauberer.“ Hatte diese Schlagzeile nicht erst vor kurzem alle Titelblätter der Zeitungen geziert? Als sie dem schmalen Weg folgte, zeigte sich ihr ein anderes Bild. Die Realität abseits der Medien war regelrecht brutal und ihr stockte einen Moment lang der Atem.
Die Weiden hatten keine Blätter mehr und sahen aus wie die alten, knochigen Finger verwesender Leichen – und waren vermutlich auch Ähnliches. Man hörte keine Vögel mehr, sah am Ufer des Flusses keine Butterblumen, keinen Löwenzahn. Und war dort hinten wirklich ein toter Fisch angespült worden? Sie traute sich nicht, nach zu schauen, sah etwas aber merkwürdig nass blitzen.
„Pflückt Rosenknospen, solange es geht“, schoss es ihr durch den Kopf. Nutze den Tag, war die Interpretation des Satzes im Club der toten Dichter. Ihre eigene Generation hatte es YOLO genannt. You only live once. Für diese junge Frau, die nach Jahren wieder an einen vertrauten Ort zurück kam, hieß das Prinzip aber, dass man sich in der Gegenwart gar keine Gedanken über die Zukunft machte, und gar nicht die Vergänglichkeit der Dinge mitbekam, weil man viel zu sehr mit dem Moment beschäftigt war.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie damals die Natur nicht genug zu schätzen gewusst hatte. Dass sie gelebt und genossen hatte, ohne sich bewusst zu machen, dass ihre Sorglosigkeit einen Preis mit sich bringen konnte. Sie hatte nur ein kleines Stück Papier in den Fluss gesetzt, mehr nicht, aber vielleicht war gerade das der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen, den Fluss zum Sterben gebracht hatte.
Vermutlich nicht, natürlich, dachte sie bei sich. Und Papier konnte verrotten. Aber ihr fiel doch auf, dass sich keiner Gedanken machte, was er seiner Umwelt antat, bis es zu spät war. Hier noch ein Tropfen eines Pestizids, da Chemiedünger, alles für sich war vielleicht zu gering, um Wirkung zu zeigen, aber in der Summe? Und da hatte das mit Chlor gebleichte Papier vielleicht doch zu beigetragen.
Auch ein kleines Stück Plastik, das man aus Versehen im Wald verlor, war vielleicht nicht allzu schlimm, auf das Große und Ganze betrachtet. Doch wenn ein Tier das fraß und daher elendig verstarb? Keiner machte sich Gedanken über die Konsequenzen der eigenen Handlung. Es mussten erst Katastrophen passieren, bevor jemand darauf aufmerksam wurde. Und was war dann? Dann konnte man nur noch Schadensbegrenzung betreiben.
Mit hängendem Kopf zog die junge Frau davon. Das Paradies ihrer Kindheit war zu einem Friedhof geworden. Zu einem Friedhof der Tiere, der Pflanzen, aber auch zu einem Friedhof ihrer Träume und ihrer Naivität. Ein Friedhof ihrer kindlichen Unschuld, aber auch ihrer Sorglosigkeit.
Auf dem Weg nach hause kam sie an einer Parkwiese vorbei. Auch dort hatte sie oft gesessen und sich gesonnt. Hatte hier mit Freunden gegrillt. Heute spielten hier einige Kinder Ball. Sie ärgerten sich darüber, dass das Gras etwas zu lang war, weil dann der Ball wohl weniger Geschwindigkeit bekam. Der eine Junge hatte gerade mit dem Ball seinen Energydrink umgekippt und ärgerte sich nicht etwa darüber, dass die Chemie in den Boden floss, sondern nur darüber, dass er sie nicht mehr in sich selbst kippen konnte.
„Plückt Rosenknospen, solange es geht“, mahnte sie die Kinder an, doch sie begriffen nicht. Mit Schimpfworten scheuchten sie sie weg. Irgendwann würden auch sie verstehen. Und dann war es wieder zu spät, um noch etwas zu retten.